Für die alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs war bereits vor der Kapitulation der Wehrmacht 1945 klar: Die gesamte deutsche Gesellschaft muss von nationalsozialistischen Einflüssen und Prägungen gesäubert und die Deutschen demokratisch „umerzogen“ werden. Vergleichsweise einfach zu bewerkstelligen war es, NS-Gesetze außer Kraft zu setzen, Herrschaftssymbole aus dem öffentlichen Raum zu entfernen, Bücher aus Bibliotheken auszusondern, Hakenkreuze auf Formularen unkenntlich zu machen und Straßennamen zu ändern. Ein ungleich größeres Problem stellte hingegen die Frage dar, wie mit den rund 8,5 Millionen NSDAP-Parteigenossen („Pg’s“) und den vielen Millionen weiterer Angehöriger von NS-Organisationen unter rund 70 Millionen Deutschen umzugehen und wie diese zu entnazifizieren seien.
Während es bei juristischen Verfahren wie etwa dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46 darum ging, konkrete Verbrechen strafrechtlich zu ahnden, war das Ziel der Entnazifizierung ein anderes. Es galt, die deutsche Gesellschaft politisch zu säubern und Personen, die sich zuvor für das NS-Regime engagiert hatten, von wichtigen Positionen in der Gesellschaft und im zukünftigen Staat auszuschließen.
Internierungen und Entnazifizierungsverfahren
Unmittelbar nach Kriegsende waren aktive Nationalsozialisten und Funktionsträger – insbesondere aus dem Polizei- und SS-Apparat und der Verwaltung – von den Alliierten von ihren Positionen entfernt und in „automatischen Arrest“ genommen worden. Zwischen 1945 und 1950 inhaftierten die Alliierten insgesamt mehr als 400.000 Deutsche präventiv und ohne Einzelfallprüfung in Internierungslagern. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) saßen in sogenannten Speziallagern nicht nur ehemalige Nationalsozialisten, sondern auch viele Personen, die von den Sowjets als politische Gegner angesehen wurden.
Über die konkrete Durchführung der politischen Säuberung bestand Uneinigkeit zwischen den vier Besatzungsmächten, gemeinsame Vorgehensweisen und Zielvorgaben gab es zunächst nicht – entsprechend unterschiedlich war die Handhabung der Entnazifizierung. Erst im Januar 1946 erließ der Alliierte Kontrollrat nach langen Diskussionen mit der Direktive Nr. 24 erste Richtlinien, die für eine deutschlandweite Angleichung sorgen sollten.
Das „Gesetz Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ vom 5. März 1946 legte dann fünf Gruppen fest, denen die Betroffenen zuzuordnen waren: 1. Hauptschuldige, 2. Belastete (Aktivisten, Militaristen und Nutznießer), 3. Minderbelastete (Bewährungsgruppe), 4. Mitläufer und 5. Entlastete.
Bereits 1945/46 gaben die Besatzungsmächte die Zuständigkeit für die Entnazifizierung an die Deutschen ab. Je nach Besatzungszone prüften unterschiedlich zusammengesetzte Kommissionen, Ausschüsse und sogenannte Spruchkammern, besetzt unter anderem mit ehemaligen Widerstandskämpfern, Gewerkschaftern, Berufs- und Laienrichtern, nun jeden Fall individuell. In der Vier-Sektoren-Stadt Berlin gab es – zumindest formal – ein gemeinsames Verfahren der vier Mächte. Grundlage für das Einstufungsverfahren mit anschließendem Bescheid durch die Spruchkammern, Ausschüsse und Komitees war in allen Besatzungszonen respektive -sektoren ein umfangreicher Fragebogen. Die Befragten mussten darin einen detaillierten Einblick in ihren politischen Lebenslauf geben und unter anderem ihre Mitgliedschaft in der NSDAP und weiteren NS-Organisationen wahrheitsgetreu angeben. Mögliche zu verhängende Sühnemaßnahmen reichten von Geldzahlungen über die Versetzung in den Ruhestand bis hin zur Einweisung in ein Arbeitslager. Viele Betroffene legten zudem entlastende eidesstattliche Erklärungen vor. Da belastende Dokumente oft nicht beizubringen waren, trugen diese Bezeugungen beispielsweise von Freunden oder Nachbarn nicht unwesentlich dazu bei, dass die überwältigende Anzahl der Fälle lediglich der 4. Kategorie, derjenigen der „Mitläufer“, zugeordnet wurde. Nur 1,4 Prozent der zu Entnazifizierenden galten als „Hauptschuldige“ und „Belastete“. Die offiziellen Bescheide über die Einstufung als „Entlasteter“ oder „Mitläufer“ – und in einem weiteren Sinne auch die entlastenden eidesstattlichen Erklärungen – bezeichnete man später als „Persilscheine“.
Unterschiede zwischen den vier Besatzungszonen
Auch wenn die Alliierten sich auf fünf Belastungsgruppen verständigt hatten, setzten sie die Entnazifizierung in ihrer jeweiligen Besatzungszone weiterhin mit deutlich unterschiedlichen Schwerpunkten um. Den größten bürokratischen Aufwand betrieben die Amerikaner. Sie entließen nicht nur diejenigen, die in der NS-Zeit Schlüsselpositionen bekleidet hatten, sondern auch alle ehemals „aktiven“ Nationalsozialisten.
Die anfangs rigorose und stetig ausgeweitete politische Säuberung sorgte jedoch für Personalmangel in der Verwaltung, die Verfahren schleppten sich dahin, unsystematische und von den zu Entnazifizierenden als willkürlich empfundene Abläufe unterminierten den Demokratisierungsanspruch der Amerikaner.
In der britischen und der französischen Besatzungszone besaß die Entnazifizierung einen geringeren Umfang als in der amerikanischen und wurde deutlich pragmatischer gehandhabt. Die Briten räumten der Effizienz der deutschen Verwaltung und – angesichts von Zerstörung und Mangel, von Wohnungsnot und einer dramatischen Ernährungslage – auch der Wirtschaft Vorrang vor umfangreichen Personalsäuberungen ein. Richtlinien, die zuweilen widersprüchlich waren, wurden oft erst verspätet umgesetzt, das Verfahren war kompliziert. In der französischen Besatzungszone besaß die Entnazifizierungspolitik einen weithin improvisierten Charakter, zudem war sie auf eigene nationale Interessen ausgerichtet. Das Augenmerk galt der Entnazifizierung des öffentlichen Dienstes und großer Industrieunternehmen, eine ähnlich rigide politische Säuberung wie zu Beginn in der US-Besatzungszone war nicht angestrebt.
In der SBZ fand die Entnazifizierung insgesamt entschlossener und auf Dauer wirkungsvoller als in den drei Westzonen statt. In den ersten Monaten noch unsystematisch von spontan gebildeten lokalen Ausschüssen und Komitees durchgeführt, legten die Sowjets die Entnazifizierung (wie in der französischen Besatzungszone) bereits 1945 in deutsche Hände. Zugleich fungierte die Entnazifizierung – neben Bodenreform und Verstaatlichungen – als ein Instrument, um den kommunistischen Machtanspruch im Rahmen der „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung“ durchzusetzen: Im Unterschied zu den Westzonen, wo die Besatzungsmächte auf Personal des gesamten demokratischen Spektrums zurückgriffen, wurden in der SBZ insbesondere Genossen der KPD, später der SED, in entscheidende gesellschaftliche und politische Positionen gebracht.
Wieder anders stellte sich die Situation in Berlin dar. Kurz vor Einmarsch der Westmächte Anfang Juli 1945 verfügte die Sowjetische Militäradministration für ganz Berlin, dass alle ehemaligen NSDAP-Mitglieder aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen seien. Wer in Berlin fortan eine verantwortungsvollere Position mit Weisungsbefugnis für Mitarbeiter bekleiden wollte, hatte zuvor erfolgreich ein Entnazifizierungsverfahren zu durchlaufen, das die von den vier Besatzungsmächten geführte Alliierte Kommandantur anwies. Auch wenn es in Berlin ebenso wie in den Besatzungszonen unterschiedliche Prioritäten gab, so war die Zusammenarbeit der vier Siegermächte doch von Pragmatismus geprägt.
Das Ende der Entnazifizierung
Mit fortschreitender Dauer und dem sich zunehmend verschlechternden Verhältnis zwischen den Westmächten und der Sowjetunion, das in den Kalten Krieg mündete, sank das Interesse an einer möglichst umfassenden und konsequenten Entnazifizierung. Mehr als zuvor galt es nun, die Deutschen für sich und die jeweils aufzubauende neue Ordnung zu gewinnen, anstatt sie von sich wegzutreiben. Die Beendigung der zu Beginn von den Deutschen mehrheitlich begrüßten, ab 1946 immer stärker abgelehnten Entnazifizierung entwickelte sich zu einem zugkräftigen Wahlkampfthema, mit dem die neugegründeten Parteien das Millionenheer ehemaliger „einfacher“ oder „nomineller“ NSDAP-Mitglieder ansprachen. Die Strategie, große und zumindest formal belastete Bevölkerungsteile zu integrieren, verfolgte die KPD beziehungsweise die SED bereits seit Anfang 1946 in der SBZ – die SED galt bald sprichwörtlich als „großer Freund der kleinen Nazis“. Auch in den westlichen Besatzungszonen wurden die „kleinen Nazis“ zunehmend nachsichtig behandelt und das Ende der Entnazifizierung forciert: Die Spruchkammern wurden zu „Mitläuferfabriken“ (so der Titel einer einschlägigen Studie), Schnellverfahren wurden eingeführt und die Frequenz, mit der die Alliierten Amnestiegesetze verabschiedeten, nahm deutlich zu.
Im Februar 1948 verkündete die Sowjetische Militäradministration, die Entnazifizierung werde in der SBZ binnen zwei Wochen zum 10. März beendet. Die westlichen Besatzungsmächte zogen nach: Sie übertrugen die entsprechenden Kompetenzen an die Länderparlamente. Ihren Abschluss fand die Entnazifizierung im Westen jedoch erst nach Gründung der Bundesrepublik. Am 11. Mai 1951 verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen aller Parteien einschließlich der KPD und bei nur zwei Enthaltungen das sogenannte 131er-Gesetz, das allen „Minderbelasteten“ und „Mitläufern“ unter den nach 1945 entlassenen Staatsbediensteten die Rückkehr in den öffentlichen Dienst ermöglichte. In der DDR hob die Volkskammer im Jahr darauf die letzten Beschränkungen für ehemalige „Pg’s“ und frühere Angehörige der Wehrmacht auf – sie konnten nun wieder in sensiblen Bereichen wie der inneren Verwaltung und der Justiz tätig werden. Der entscheidende Unterschied zwischen den Regelungen in West und Ost war, dass in der Bundesrepublik NS-belasteten ehemaligen Angehörigen des öffentlichen Dienstes ein Anspruch auf Wiedereinstellung zugestanden wurde, in der DDR gering NS-Belastete beruflich zwar rehabilitiert wurden, staatliche Stellen aber nicht verpflichtet waren, sie zu beschäftigen.
Ist die Entnazifizierung nun gescheitert? Auf jeden Fall ist ihre Bilanz ernüchternd. Die Anzahl der Personen, die für die tatkräftige Unterstützung des NS-Regimes zur Rechenschaft gezogen wurden, war sehr gering. Entgegen dem Anliegen der Alliierten konnte beim Wiederaufbau nicht konsequent auf die alten Eliten verzichtet werden – so fanden sich in der Wirtschaft und der Verwaltung nach 1950 oft dieselben Personen, die dort auch schon vor 1945 tätig waren. Auch in Kultur und Wissenschaft profitierten viele von dem bald nachlassenden Elan der Entnazifizierung. Bei den Verantwortlichen in Ost und West setzte sich die Einsicht durch, dass der Preis für den Aufbau einer stabilen staatlichen Nachkriegsordnung die großzügige Integration der mehr oder weniger stark belasteten Parteigänger der NDSAP war. Nachhaltige Wirkung erzielte die Entnazifizierung vor allem in der Politik: Parteien, die nationalsozialistisches Gedankengut verbreiteten, fanden in beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften keine dauerhafte Massenbasis mehr.