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„Kalter Krieg“ – Die (Vor-) Ge­schich­te eines Be­griffs

Ein „Neologismus des späten 20. Jahrhunderts“?

Anfang September 1947 publizierte der renommierte Politikkommentator Walter Lippmann die erste von vierzehn Kolumnen, die als Serie unter dem Titel „Cold War“ in mehreren Zeitungen abgedruckt wurden. Bereits im Herbst 1947 erschienen die Beiträge in Buchform unter dem Titel The Cold War: A Study in U.S. Foreign Policy. Lippmanns Verwendung der Formulierung „kalter Krieg“ markiert einen denkwürdigen Moment, denn erst damit begann die Popularisierung dieses Begriffs als Bezeichnung für den sich damals herausbildenden Konflikt zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten, der bis 1990 andauern sollte.

Lippmann war allerdings nicht der Erste, der sich dieses Begriffs bediente. Wenige Monate zuvor hatte der Finanzmogul Bernard Baruch im April 1947 in einer Rede erklärt, „Russland“ stehe allein auf weiter Flur gegen den „American Way of Life“ und strebe eine beherrschende Rolle als „weltweiter Sicherheitswächter“ an: „Machen wir uns nichts vor“, so Baruch damals: „Wir befinden uns heute mitten in einem kalten Krieg.“ Deshalb schreiben viele Quellen Baruch die Urheberschaft für diesen Begriff zu, auch wenn dieses Verdienst genau genommen seinem Redenschreiber Herbert Bayard Swope gebühren würde.

Andere hingegen lassen weder Baruch noch Swope als Urheber gelten. Der Historiker Odd Anre Westad, einer der angesehensten Experten für den Kalten Krieg, gesteht dieses Verdienst dem britischen Schriftsteller George Orwell zu. In seinem im Oktober 1945 erschienen Essay Du und die Atombombe beschrieb Orwell eine im Entstehen begriffene Nachkriegsordnung, in der „zwei oder drei monströse Superstaaten – jeder von ihnen im Besitz einer Waffe, mit der binnen weniger Sekunden Millionen von Menschen ausgelöscht werden können – sich vermutlich in einem permanenten Zustand der Unbesiegbarkeit und des ‚kalten Krieges‘ mit seinen Nachbarn behaupten würden.“ Die Atombombe werde vor dem Hintergrund, dass sie enorm kostspielig und technisch hochgradig anspruchsvoll sei, „mit größerer Wahrscheinlichkeit den großen Kriegen ein Ende setzen – zum Preis der unendlichen Verlängerung eines ‚Friedens, der keiner ist‘.“

Orwell sieht mit Beklemmung und beachtlichem Weitblick eine Weltordnung voraus, die vordergründig wie eine Nachkriegsordnung anmutet, aber nicht zum Frieden führt, sondern zu einer ganz neuartigen, ungewissen und unendlichen Pattsituation – verbunden mit der permanenten Androhung der wechselseitig zugesicherten Zerstörung. Darum wertet Westad den Begriff „kalter Krieg“ nachvollziehbarerweise als „Neologismus des späten 20. Jahrhunderts“, der „vor dem Zweiten Weltkrieg“ nicht existiert habe.

Ein Mann sitzt auf seinem Schreibtisch. Seine Arme sind vor seinem Bauch verschränkt. Er dreht sein Gesicht weg von Kamera um sein Profil zu zeigen.

Die (quasi-)mittelalterlichen Wurzeln des Begriffs

Orwells Beschwörung des „kalten Krieges“ ist natürlich bedeutsam, denn er verwendete den Begriff als Erster zur Beschreibung des Antagonismus zwischen Sowjetunion und USA, der sich in der frühen Phase des Atomzeitalters herausbildete. Dennoch war auch Orwell nicht der geistige Vater des Begriffs. Manche datieren seinen Ursprung gar auf das 14. Jahrhundert. Damals soll der spanische Politikkommentator Don Juan Manuel den Begriff in Bezug auf den nicht enden wollenden Konflikt zwischen Christen und Arabern in Spanien verwendet haben. Manuel gab dem Begriff zwar eine ähnliche Bedeutung wie Orwell (im Sinne eines Endloskonflikts mit ungewissem Ausgang), aber genau genommen spricht er nicht von la Guerra fria – vom „kalten Krieg“ –, sondern von la Guerra tibia (im modernen Spanisch tivia) – also vom „lauwarmen Krieg“. Der Begriff „kalter Krieg“ taucht erst 1860 in einer Neuveröffentlichung von Manuels Werk auf – und zwar augenscheinlich als Ergebnis einer redaktionellen Bearbeitung.

Eduard Bernstein, sozialdemokratischer Theoretiker und Mitglied des Deutschen Reichstages. Bildnachweis: Deutsches Historisches Museum

Der „kalte Krieg“ und das Wettrüsten

Somit tritt der Begriff „kalter Krieg“ nach heutigem Erkenntnisstand erstmals 1860 in irgendeiner Sprache in Erscheinung. Angesichts der einigermaßen akzidentellen Verwendung spricht allerdings viel dafür, die Erstverwendung des Begriffs dem sozialistischen Theoretiker und Politiker Eduard Bernstein zuzuschreiben. 1893 kritisierte Bernstein das damalige Wettrüsten zwischen dem deutschen Kaiserreich und den anderen europäischen Großmächten und schrieb: „Ich weiß nicht, ob der Ausdruck schon gebraucht worden ist, aber man könnte sagen, es ist die kalte Kriegsführung. Es wird nicht geschossen, aber es wird geschröpft.“

Im Mai 1914, wenige Wochen bevor dieser „kalte Krieg“ heiß wurde, verwendete Bernstein – inzwischen sozialdemokratischer Abgeordneter im Reichstag – den Begriff ein zweites Mal: „Wir behalten diesen stillen Krieg, diesen kalten Krieg, wie man ihn genannt hat, den Krieg der Rüstungen, der Überbietungen im Rüsten.“

Dass Bernstein die Formulierung „kalter Krieg“ verwendet, um das Wettrüsten vor dem Ersten Weltkrieg zu charakterisieren, ist eine entscheidende Parallele zu ihrer Anwendung auf den Konflikt zwischen Sowjetunion und USA. Die Erwartung eines Rüstungswettlaufs zwischen den beiden Supermächten kommt in der westlichen Presse im Wesentlichen erst ab dem Tag der Befreiung am 8. Mai 1945 zur Sprache und wurde durch den Abwurf amerikanischer Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 verstärkt. „Ein Rüstungswettlauf, der jedes Wettrüsten beenden wird“ – um den US-Senator Brien McMahon zu zitieren – zeichnete sich am Horizont ab.

„Weißer Krieg“ und „kalter Krieg“…

Damit ist die Geschichte der Ursprünge des Begriffs jedoch im Grunde immer noch nicht vollständig erzählt. Zwischen 1914 – damals verwendete Bernsteins ihn zum zweiten Mal – und 1945 – in diesem Jahr beschwor Orwell den Begriff – klafft eine beachtliche und erklärungsbedürftige Lücke. Einen hilfreichen Ansatzpunkt liefert ein Briefwechsel zwischen Walter Lippmann und Herbert Swope von 1950, in dem sie sich darüber austauschten, wie sie zuerst auf den „kalten Krieg“ gekommen waren. Lippmann nannte als gedanklichen Anstoß nicht Baruchs Rede, sondern die Erinnerung an einige französische Ausdrücke aus den 1930er Jahren: la Guerre froide („kalter Krieg“) und la Guerre blanche („weißer Krieg“). Swope hingegen schrieb, ihm sei der Begriff bereits 1939 in den Sinn gekommen und als passender Gegenbegriff zu der sich abzeichnenden Gefahr eines „heißen Krieges“ – also eines realen Krieges – erschienen. Die von Lippmann genannten französischen Ausdrücke seien ihm nie zu Ohren gekommen.

Trotz aller offenkundigen Unterschiede verorten sowohl Lippmann als auch Swope den Begriff „kalter Krieg“ zu Recht in der Zeit unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg. Lippmanns Darstellung ist besonders plausibel, weil der verwandte Begriff „weißer Krieg“ – in der Bedeutung von „Wirtschaftskrieg“, „Propagandakrieg“ oder einfach „unblutiger Krieg“ – in den 1930er Jahren und vor allem gegen Ende des Jahrzehnts in verschiedenen englisch- und französischsprachigen Publikationen vorkommt.

Die Situation in Europa in den späten 1930er Jahren gab allerdings nicht nur den Anstoß zu dem Begriff oder zu den damit verknüpften Gedanken, sondern wurde verschiedentlich selbst als „kalter Krieg“ bezeichnet. Die erste Erwähnung des Begriffs in diesem Zeitraum ist nach heutigem Kenntnisstand zugleich das erste Mal, dass er in englischer Sprache in Erscheinung trat – und zwar in einem Leitartikel, dessen Verfasser nicht genannt wurde und der am 26. März 1938 unter dem Titel Hitler’s Cold War in The Nation Magazine veröffentlicht wurde: „So wie Hitler seine Strategie im eigenen Land vom offenen Terror auf kalte Pogrome umgestellt hat, wird er womöglich jetzt die Eroberung Mitteleuropas durch kalte Kriegsführung vollenden“ – konkret ist hier die Ausschaltung des tschechoslowakischen Handels gemeint.

Ein weiteres Mal kommt der Begriff auf bemerkenswerte Weise unmittelbar vor Kriegsbeginn im Sommer 1939 zum Einsatz. In zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben des Atlantic Monthly publizierte der britische Ökonom und Politiker David Graham Hutton zwei Essays – „The Next War“ und „The Next Peace“. Darin erhielt der Begriff „kalte Krieg“ die wohl stichhaltigste Ausgestaltung, die er vor dem Zweiten Weltkrieg erfuhr. Hutton spricht von „der aktuellen Art von ‚kaltem Krieg‘ oder ‚heißem Frieden‘“ und betont ebenso wie Bernstein die Größenordnung des europäischen Wettrüstens, das „astronomische Ausmaße“ angenommen habe: „Sie kommen zwar ohne Schüsse, aber nicht ohne Krieg aus.“ Ganz im Sinne von Orwells Klagen über diese „tyrannischen Waffen“ – gemeint ist nicht nur die Atombombe, sondern auch „Panzer, Schlachtschiffe und Bomber“ – konstatiert Hutton, dass „unsere zwanzig Jahre Fortschritt in der Entwicklung von Todeswerkzeugen“ die Möglichkeiten eines „echten Friedens“ stark eingeschränkt haben – also eines Friedens, in dem „wir Frieden und Demokratie wahren“ – im Gegensatz zu einem „bewaffneten Frieden (der kein Frieden ist)“.

„Kalter Krieg“ wird zum Begriff

„Nach dem nächsten Krieg in Europa“, so Hutton am Schluss seines Essays, „wird vielleicht Amerika gefordert sein, die Alte Welt zu erneuern. Amerika – oder Russland… Was auch immer in Europa zwischen ihnen geschieht – der Ausgang wird über ihr jeweiliges Schicksal entscheiden und damit über die Frage, ob Krieg oder Frieden herrscht – oder keines von beiden.“ Damit sind wir wieder bei Lippmann. Zwei Jahre nach dem Ende des „nächsten Kriegs in Europa“ widmet Lippmann in seinen Kolumnen das Hauptaugenmerk gerade auf die möglichen Schicksalswege des am Boden zerstörten Kontinents und bricht eine Lanze für den Marshallplan als ersten Schritt zur „Europäischen Einigung“ und für den späteren Abzug aller ausländischen Armeen aus Osteuropa, Deutschland und Österreich.

Lippmanns Serie Kolumnenserie „Cold War“ erschien in verschiedenen Zeitungen in allen Teilen der USA und der Welt ab dem 2. September 1947. Als in den folgenden Wochen die nächsten Kolumnen der Serie nach und nach veröffentlicht wurden, wurde rasch ihre begriffsbildende Wirkung deutlich, denn sie machten „den Ausdruck zum – historischen und politischen – Begriff“, wie der Historiker Anders Stephanson es einmal formulierte. Der sichtbare Beweis: Am 7. September tauchte die Formulierung „kalter Krieg“ zum ersten Mal in der New York Times auf, am 15. September in der London Times und am 8. Oktober im Wall Street Journal –und am 11. November war sogar in der Zeitung Die Neue Zeit, die im sowjetischen Sektor von Berlin erschien, ein Artikel mit der Überschrift „Kalter Krieg?“ zu lesen.

In den Vereinigten Staaten von Amerika war es Walter Lippmanns Buch „The Cold War. A Study in U.S. Foreign Policy“, das den Begriff „Kalter Krieg“ populär machte. Bildnachweis: AlliiertenMuseum

Der „Neue Kalte Krieg“

Wir haben aufgezeigt, dass der Begriff „kalter Krieg“ – auch wenn er als historischer Begriff aufkam, der den etwa von 1947 bis 1990 andauernden Antagonismus zwischen Sowjetunion und USA bezeichnet – gewissermaßen eine Vor-Geschichte hat, deren Ursprünge im Vorfeld der beiden Weltkriege auf dem europäischen Kontinent in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegen. Im Zeichen von Wettrüsten, wirtschaftlichem Druck, Propagandafeldzügen und weiteren Faktoren etablierte sich eine Situation, die weder Frieden noch Krieg war, aber in der permanent mit der Möglichkeit einer blutigen Auseinandersetzung gerechnet wurde.

Beim Blick auf die Schlagzeilen der heutigen Presse wird rasch deutlich, dass der Begriff „kalter Krieg“ auch eine Nach-Geschichte hat. Die Diskussionen über einen „neuen kalten Krieg“ beziehen sich in erster Linie auf den Aufstieg Chinas zur Großmacht – Orwells dritten „monströsen Superstaat“ (der damals allerdings nur eine „potenzielle“ Macht darstellte). Heute lesen wir von einem neuen nuklearen Rüstungswettlauf zwischen den USA und China, und manche Beobachter fühlen sich von Chinas Hyperschallraketentests an den „Sputnik-Moment“ erinnert. Doch der „neue kalte Krieg“ hat seinen eigenen Wortschatz und seine eigenen Paradigmen, die der aktuellen Situation Rechnung tragen. Die neueste „Nuklearoption“ hat, um Radio Free Europe zu zitieren, nichts mit Waffen zu tun, sondern mit der Drohung, Russland aus dem elektronischen Zahlungssystem SWIFT (Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication) auszuschließen, falls es in die Ukraine einmarschieren sollte [ANMERKUNG: Leider hat Russland in der Zeit zwischen dem Verfassen und der Veröffentlichung dieses Texts genau das getan, während es von der „nuklearen Option“ in einem wörtlicheren Sinne spricht. Falls es noch einer Erinnerung bedurfte: Der „heiße Krieg“ lebt auch in der Gegenwart weiter, und zwar – wie im 20. Jahrhundert – oft parallel zu seiner kalten Variante]. Ganz allgemein sind es Begriffe wie „Hybridkrieg“, „Cyberkrieg“, „Informationskrieg“ und neuerdings „Grauzonenkonflikt“ (laut einer Definition in der amerikanischen Zeitschrift „Special Warfare“ eine Konfliktzone „zwischen der traditionellen Dualität von Krieg und Frieden“), die andeuten, in welchen neuen Sphären der „neue kalte Krieg“ vielleicht jetzt schon ausgetragen wird.

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„Der kalte Krieg erringt seine Siege geräuschlos.“

The Nation Magazine, 26. März 1938.

Geschrieben von Frank Mello Morales

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